“My Dear Mother.” Multimodalität als Herausforderung bei der Auseinandersetzung mit Ansichtskarten. 

Überlegungen in Anschluss an Mascha Gugganig und Sophie Schor: Multimodal Ethnography in/of/as Postcards. In: American Anthropologist 122 (3), S. 691–697. DOI: 10.1111/aman.13435.

von Ben Kaden (@bkaden)

I.

Die Beschäftigung mit Ansichtskarten ist zugegeben ein außerordentliches Nischenthema, in meinem persönlichen Leben jedoch zunehmend eine größere Angelegenheit, eine Art Lebenspraxis und fortlaufendes Erkenntnisprojekt. Das gilt sowohl (auto)biografisch als auch für fotografie- und kulturgeschichtliche Zugänge zur, nun ja, Welt. 

Mittlerweile ergibt es sich, dass ich hier und da zu einem Vortrag eingeladen werde, bei dem ich ein paar Gedanken, Thesen und Überlegungen begleitend zu den Bildbeispielen aus meiner Sammlung, um die es dem Publikum natürlich hauptsächlich geht, einstreue. Da die Annäherung gänzlich ohne Systematik begann und sich erst nach und nach Muster abzeichnen und Verbindungslinien zwischen den thematischen Eckpunkten dieses Pastiches einer Vor-Ansichtskartentheorie sichtbar werden, bin ich bei jeder Vortragsvorbereitung und Nachbereitung auf der Suche nach theoretischer, vielleicht sogar wissenschaftlicher Literatur zum Themenfeld. Das Sammeln an sich, so zeigt sich, ist nämlich meine Sache nicht und weder die Publikationen von Horst Hille noch die von Günter Fomery lösen bei mir ein Gefühl besonderer Begeisterung aus, auch und gerade weil ich verstehe, woher sie kommen und was sie wollen.

In gewisser Weise vertrauter sind mir die Annäherungen von Ulrich Brinkmann mit seiner Achtung vor dem Blumenkübel (Berlin: DOM Publishers, 2020) und seiner Urbanisierung der latinischen Malerlandschaft (Berlin: DOM Publishers, 2018). Er erweitert damit in gewisser Weise den Ansatz von Alvyn Boyarski (Boyarsky, 1995). Aber es ist nur ein halber Treffer und würde man mich fragen, welche Dimension mir bei diesen aus der Architekturtheorie kommenden Ansätzen fehlt, die doch bildthematisch ganz die Linie treffen, der meine Instagram-Sammlungen folgen, dann antworte ich: Die Facetten Medialität und Gebrauch. Historisch hat an dieser Stelle Monica Cure mit ihrem wunderbaren Buch “Picturing the postcard : a new media crisis at the turn of the century” (2018) ein Tür geöffnet, die freilich und erwartungsgemäß nur einige Erkenntniskammern zugänglich macht. Einen anderen wichtigen Puzzlestein liefert Jeffrey Meikle mit seiner Analyse der Curt-Teich-Ansichtskarten für zwei Dekaden, nämlich die 1930er bis 1950er Jahre, und deren Rolle bei der Herausbildung eines Ansichtskartenselbstbilds der USA.

Ansichtskarten sind, das liegt auf der Hand, soziale Ur-Medien, eine Modernisierung und Erweiterung des Schriftmediums Briefs sowohl um das Bild als auch um den Faktor Zugänglichkeit, eine Bahn medialer Entwicklung, die tatsächlich recht geradlinig zu Instagram führte, zumindest im Bereich der Ferienphilokartie, ein Thema für das Mikołaj Długosz mit seinem Buch Latem w mieście – Summer in the City (2016) eine beeindruckende aber leider ebenfalls nur die Bildseiten spiegelnden Präsentation vorgelegt hat. Seine Entscheidung, die Präsentation auf “communist-era postcards” zu begrenzen, unterstreicht ganz nebenbei die zeithistorische Abgrenzbarkeit der letzten Blütezeit des Mediums. Gerade an die urlaubsbezogene Philokartie führt die die Auflösung des Medienphänomens Ansichtskarte vor Augen. Die Ansichtskartenständer, die man heute noch in den populäreren Destinationen des Massentourismus findet, sind mittlerweile vor allem drahtige Skelette einst überbordender Bildangebote. Statt ihrer markieren nun Hinweisschilder von Tourismusvereinen besonders für Instagram taugliche Standpunkte an den Stränden und Bergstationen. Die Suche nach einer Briefmarke wird, sofern man sie überhaupt unternimmt, dagegen oft zur mitunter demütigenden Tagesaufgabe.

II.

Die Reflexion über das Verschwinden des Mediums Ansichtskarte, immer auch ein melancholisches Eintauchen in das Warmbad der Nostalgie, ist jedoch etwas für einen anderen Tag. Hier möchte ich nur auf einen Beitrag hinweisen, der für die ansichtskartentheoretische Reflexion die Erwartung trifft, die mich treibt, wenn ich bei Google Scholar etwas zur “Deltiology” suche und unter diesem Fachwort so gut wie nie etwas finde. Mascha Gugganig und Sophie Schor veröffentlichten vor einem reichlichen Jahr in der Zeitschrift American Anthropologist einen Aufsatz mit einem für mich als Freund der offenen Schreibweisen in der literarischen Kultur des Poststrukturalismus sofort ansprechenden Titel: “Multimodal Ethnography in/of/as Postcards”. Das “in”, “über” und “als” folgt dabei Überlegungen von Kim Fortun (2003) und ist offenkundig selbst eine syntaktische Feier der Multimodalität. 

Der erste Satz des Textes der Autorinnen ist bereits eine Nachricht, die direkt nach Hause führt: “As ephemera, postcards are often dismissed as unworthy objects for scholarship.” Für die Philatelie, also die Briefmarkenkunde, gilt ähnliches. (siehe dazu auch Naguschweski, Schöttker, 2019) Aber die Philokartie, also die Ansichtskartenkunde steht im Vergleich noch um ein Vielfaches mehr im Schatten, wenn es um ihre Spiegelung in der wissenschaftlichen Forschung geht. Die Ursachen sind offensichtlich: Wenngleich oft offiziellen Publikationen ähnlich – jede Karte der DDR trug zum Beispiel eine eindeutige Druckvermerksnummer –  war und ist das Medium nicht systematisch fassbar. Das gilt bereits für die Bildseite. Für die Gebrauchsdimensionen, die jede Karte zum Unikat werden lässt, potenziert sich der Effekt. Die so genannte Social Philately versucht hier und da etwas aufzufangen, bleibt aber aus guten Gründen beim Ausgangspunkt der sorgfältig durchkatalogisierten Briefmarkengeschichte. Überlieferung ist bei Ansichtskarten nämlich buchstäblich Zufall und nur in sehr ausgewählten Fällen gibt es überhaupt zusammenhängende Korpora. Die Ansichtskarte ist immer ein Griff mit beiden Händen in die unendlichen und unabschätzbaren Tiefen sozial- und kultur- und lebensgeschichtlicher Kontingenz. Die zumindest in der Vergangenheit verbreitete Position, es handele sich dabei wie auch bei anderen Aspekten von Alltagskultur um Phänomene ohne größere soziale Auswirkungen (“no larger social ramifications”), ist eines dieser elitären Vorurteile der Akademien, mit denen sich die Geisteswissenschaften seit je um zahllose hochinteressante Forschungsgegenstände und Erkenntnispfade bringen. 

III.

Für die Anthropologie bzw. Ethnographie ebenso wie für die Kulturgeschichte ergibt sich die Perspektive einer Auseinandersetzung mit dem historischen Bildträger Ansichtskarte und den Darstellungskonventionten mit dem Zweck “to highlight engagement with a mundane, though no less complex, colonial medium.” (Gugganig, Schor, 2020) Die Aufarbeitung kolonialer Deutungen und Bildsprachen und damit verknüpft möglicherweise sogar eine Form der Dekolonisierung, in jedem Fall eine kritische und dekonstruierende Analyse, bieten sich besonders im Kontrast zu den gestalterisch stärker formalisierten, aber nicht weniger aufgeladenen Briefmarken an. (siehe auch Baldwin, 1988, zu Briefmarken siehe z.B. Gabriel 2019) Waren letztere als hoheitliche, funktional streng formalisiert und gestalterisch naturgemäß reduzierte Zeichengebilde, lassen sich Ansichtskarten mit entsprechenden Motivbezug als oft spontan komponierte Dokumente des zumeist kolonialen Blicks sehen und damit als hochverdichtete Bildtexte lesen. Erstaunlich häufig können die konkreten Einzelstücke in ihrem Gebrauch und entsprechend der Nachricht sowie einer rekonstruierenden Beziehungslinie zwischen Sendenden und Empfangenden als sehr aussagekräftige Quellen dienen. Wenigstens aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive dürfte spätestens aus dieser Sicht der Wert von Ansichtskarten als Erkenntnisobjekte unstrittig sein. Für uns Querbeet-Interessierte würde damit eine Art “Social Deltiology” als Gegenstück zur “Social Philately” ins Erkenntnisfeld rücken. 

IV.

Die “Multimodalität”, die der Titel des Aufsatzes verspricht, lässt sich erwartbar auch anders lesen. Möglicherweise liegt darin auch schon die Ursache, warum Ansichtskarten akademisch so wenig Aufmerksamkeit finden: ihre Flexibilität macht sie zu vielschichtig und mehrdeutig, um als Dokument zielstrebig systematisiert und verarbeitet zu werden. Wenn es heißt: “Postcards have served many functions over time—as souvenirs, mementos, methods of communication, modes of domination, or avenues of resistance.” (Gugganig, Schor, 2020) dann ist die Liste weder vollständig noch sind die Funktionen exakt benannt. Vom Andenken über die Erinnerungsspur zur Kommunikationspraxis und so weiter sind potentielle Funktionen des Mediums nicht nur höchst vielfältig. Sondern sie liegen immer mehrfach codiert vor. 

Nachrichtenseite Ansichtskarte THE UNITED NATIONAS AT THE BRUSSELS EXHIBITION 1958. Brussels: UNEXPO BRUSSELS [1958]

Eine Ansichtskarte, die ein Besucher der Brüsseler Weltausstellung im September 1958 mit einem Eindruck von der Ausstellung an seine, augenscheinlich, Mutter in Australien sendet, transportiert zunächst nur eine persönliche Nachricht, die zum Zeitpunkt des Gebrauchs nicht über einen Küchentisch in Elwood, Victoria hinaus relevant war. Heute haben wir eine Erinnerung an die beteiligten Personen aus einer anderen Zeit vor uns. Wir haben ein Dokument und Zeugnis zu zwei uns unbekannten Menschen, deren Leben man aber anhand der Metadaten anrecherchieren könnte und von denen man zumindest weiß, dass der Sohn zum Herbst 1958 in Brüssel war, aber Post in London empfing, und die Mutter bei einer Mrs. Collins in einem gepflegten Vorort von Melbourne, trockengelegtes Sumpfland, Laufweite zum Strand, erreichbar war. 

Nachricht der besprochenen Ansichtskarte, handschriftlich.

"My Dear Mother. Post from the Brussels world fair. Please save card & stamps. Love. from Angus + Ray.
The fair is terrific too much to see all at once. Cheerio Angus.

Die Beziehung der beiden war vermutlich liebevoll, gekennzeichnet durch den Zusatz “My” for “Dear Mother”. Die Nachricht ist klar touristisch (“Post from the Brussels world fair”) und zugleich auf das Medium selbst referenzierend, das hier als Erinnerung und Sammelobjekt inklusive Briefmarken bewertet wird: “Please save card & stamps”. Der Bezug zum Motiv ist gegeben, die Beschreibung positiv oder besser noch begeistert, aber abstrakt, da die Knappheit der Schreibfläche nicht viel mehr als eine Wertung zulässt: “The fair is terrific. Too much to see all at once.” Während die erste Verabschiedung ansichtskartentypisch konventionell war – “Love. from Angus + Ray” – gibt es noch eine zweite Grußformel, die in ihrer Ausgelassenheit – “Cheerio Angus” – die Begeisterung über die Ausstellung spiegelt. (Und die Frage aufwirft, wer Ray eigentlich ist?)

V. 

Solche unmittelbaren Bezüge von Nachricht und Bildseite sind nicht unbedingt selbstverständlich, für, beispielsweise, die Ansichtskartenkultur der DDR eher selten, da das Medium dort als Telefonersatz und in Form preisgünstigen fernschriftlichen Alltagskommunkation seine Hauptverwendung fand. Bild-Text-Verknüpfungen sind daher vergleichsweise selten und auch für einen gezielten Ankauf der Exemplare meist nicht recherchierbar. Hier treffen sich Sammelnde und Wissenschaftler*innen im selben Problem: Sie können Korpora bzw. Sammlungen zunächst nur bildbasiert aufbauen und müssen, was die Nachrichten angeht, auf glückliche Fügungen, also auf relevante Botschaften hoffen. Sofern sie dies überhaupt interessiert. Erfahrungsgemäß gehen die meisten Sammelnden vor allem auf das Motiv – ich eingeschlossen. Für Forschende erweist sich das potentielle Quellenmaterial angesichts seiner schweren Bestimmbarkeit, de facto weit über das von Autorinnen benannte Charakteristikum “unclear genre” hinausreichend, kaum in die strengen Anforderungen ihrer Forschungsmethodologien einpassbar. Jedenfalls, wenn man auf das zufällige Angebot der Flohmarkt- und Internethändler angewiesen ist.

Aus Sammlungssicht kommt hinzu, dass Sammlungen traditionell ohnehin fast ausschließlich motivorientiert erstellt wurden. Die Gebrauchsperspektive, ausgenommen den Gebrauch als Sammelobjekt selbst, blieb, wie auch Mascha Guganig und Sophie Schor betonen, meist außerhalb des Blicks.

In gewisser Weise ist das auch aus anderer, nämlich kommunikationsethischer Sicht verständlich und nach wie vor so aktuell wie herausfordernd. Denn der Blick auf die Nachricht ist immer auch ein Blick unmittelbar in fremde Leben und die Beziehungen zwischen Menschen, die Karten meist nicht mit dem Hintergedanken schrieben, dass irgendwelche Sammelnden und Forschenden Jahrzehnte später auszulegen versuchen, was in ihren Botschaften stecken könnte. Relativiert wird dies einzig durch die Tatsache, dass all diesen Schreibenden von vornherein bewusst war, wie sehr eine Postkarte ein de facto öffentliches Medium ist, da kein Umschlag die Nachricht vor fremden Augen schützt. Erfahrungsgemäß, jedoch nicht immer, sind die Nachrichten entsprechend gehalten. Die Forschenden und Sammelnden mochte niemand voraussehen. Die neugierigen Augen der Postzustellenden und Nachbar*innen schon. Dennoch ist gerade für einen Forschungsbereich, in denen Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung vor dem Hintergrund zunehmender offener digitaler Verfügbarkeit von Forschungsdaten sehr intensiv diskutiert wird, eine sensible Balance zwischen dem Interesse an Sichtbarmachung und damit auch Bewahrung von Lebensspuren und dem Persönlichkeitsschutz ein zentrales Thema. Für mich selbst habe ich eine – vorläufige – Lösung gefunden. (Kaden, 2020) Aber die Auseinandersetzung mit dieser Frage ist keinesfalls am Ende, sondern verdeutlicht eine weitere Komplexität der Philokartie: konkrete personenbezogene Lebensspuren.

VI.

Relevant wird dieser zusätzliche Komplex nun insbesondere, weil die Analyse von Ansichtskarten immer auch notwendig auf die sammelnde und analysierende Person und ihre Deutungsziele und -praxen referenziert. Das Objekt ist nicht abgetrennt ein reiner Gegenstand der Betrachtung. Denn die Betrachtung setzt selbst unabweislich Eigenschaften und Entscheidungen der Betrachtenden voraussetzt und macht diese sichtbar. Bevor eine Analyse erfolgt, geschieht beispielsweise ein bewusster, wenngleich in den Rahmenbedingungen hoch kontingenter Auswahlprozess und eine Entscheidung für die Aufnahme erst in die Sammlung und dann in die Auseinandersetzung. Kontingent ist der Prozess schon deshalb, weil es außer bei verlagsneuen Karten und selbst bei diesen selten, kein vorhersehbares Angebot an Karten gibt. Zur Frustration verbissener Sammler ist Vollständigkeit nur in äußerst begrenzten Festlegungen und mit viel Aufwand erreichbar. Die Sammelnden sind auf das angewiesen, was, auf welchen Pfaden auch immer, zufällig bei den Händler*innen landet oder von diesen an dem einen Sonntag, an dem man zum Berliner Ostbahnhof fährt, um ein bisschen in die Kisten zu stöbern, auch ausgepackt wurde. Internetmarkplätze mindern diese Zufälligkeit nur geringfügig. Man kann sich nie sicher sein, ob nicht noch ein größerer Schatz in der nächsten Kiste wartet. Das betrifft allein bereits die Motive. Was die Nachrichten selbst angeht, lässt sich so gut nie wie definieren, was eine vollständige Sammlung überhaupt sein könnte. Auch aus diesen Gründen, so meine Vermutung, ist die Philokartie für Menschen, die gern im klassischen Verständnis des Sammelns sammeln, weniger dankbar und damit auch weniger attraktiv als die Philatelie.

VII.

Die Karte mit dem Pavillon der Vereinten Nationen auf der Brüsseler Weltausstellung – im Hintergrund schmiegt sich das Atomium noch mit ins Bild – ist in Sachen Überlieferungs- und Erwerbskontingenz keine Ausnahme. Wie sie aus dem Briefkasten in Elwood, Victoria schließlich auf meinen Schreibtisch gelangte, ist nicht rekonstruierbar. Sie ist da als das, was sie ist. Nicht mehr, nicht weniger. Sie ist der Inbegriff dessen, was die Autorinnen als Open System bezeichnen. Als Objekt bündelt sie ein paar Elemente, die das System etwas einhegen. Dank des Poststempels ist sie gut datierbar. Die Nachricht ist geradlinig und erwartbar. Aber gerade darin bietet sie wieder diverse Einstiege ohne absehbares Ende und auch absehbaren Erkenntniserfolg. So bietet sie, Stichwort Ethnographie, Ansatzpunkte für die sozio-kulturelle Verortung des Schreibenden. Die Distanz Brüssel – London – Elwood, Victoria – zeugt von einer räumlichen Mobilität, der Besuch der Weltausstellung von einem Interesse und den entsprechenden Teilhabemöglichkeiten, die Handschrift ist ausgewogen, die Sprache korrekt, das Vokabular treffend. Die Adresse des Absenders – Australian House London – lässt eine offizielle Rolle in den Bereich des Wahrscheinlichen rücken. Die Zieladresse ist mehrdeutiger, da die Empfängerin nicht direkt der Adresse zugeschrieben wird. Zumindest für den Absenden bleibt aber ein Status ableitbar, der eine räumliche Beweglichkeit ermöglicht. Zudem, auch das, ist die Ansichtskartenkommunikation ihrer Natur nach ein vorwiegend bürgerliches Medium.

Bildseite der beschriebenen Ansichtskarte. Pavillon mit Archigrafie: NATIONS UNIES UN VERENIGDE NATIES. Diverse Besuchende. Im Vordergrund eine Grünfläche.

Erworben wurde auch diese Karte von mir zunächst wegen des Motivs, das sich durch eine erstaunlich verspielte Inszenierung von Modernität auszeichnet. Weltausstellungsarchitektur war nicht zwingend Avantgarde (oft jedoch schon), aber ihrer Rolle entsprechend immer eine Leistungsschau und darin meist herausragend. Das Atomium erfüllt diese Rolle bis heute. Der Pavillon der Vereinten Nationen, entworfen vom Architekten und Weltkriegsveteranen (US-Army) Hugo van Kuyck ist dagegen nur noch einem spezialisierten Fachpublikum vertraut. Die Beton-Holz-Kuppelkonstruktion ist zweifellos ein Blickfang. Die Motivation des Erwerbs, also meine Präferenz als Sammler, erschöpft sich jedoch nicht auf dieser Experimentalform der architektonischen Moderne der 1950er Jahre, sondern richtet sich in diesem Fall primär auf die Inszenierung. Die Karte, herausgegeben von den Vereinten Nationen für diesen Anlass, ist nicht besonders selten, aber erstaunlich fotografiert. Die Menschen sind formal scheinbar sehr gelassen, fast schnappschusshaft komponiert und bieten sich uns Betrachtenden so dar, wie wir es auch auf dem Expo-Gelände selbst hätten erfahren können. Die eigentliche Brechung erfolgt durch den sich vorbeugenden Mann im gelben Hemd. Bis auf einen, lächelnden, Blick Richtung Kamera, bleiben uns die Gesichter verborgen. Der Mann im gelben Hemd erreicht dies ebenfalls – durch eine augenscheinlich spontane, in jedem Fall ungewöhnliche Bewegung.

Detail der beschriebenen Ansichtskarte, Großaufnahme der Grünfläche und Fokus auf eine sich vorbeugende Person in dunkler Hose und gelbem Hemd.

Es scheint, als würde er etwas aufheben. Die Haltung seiner Finger könnte sogar das Pflücken eines der gelben Blümchen andeuten. Genau lässt es sich nicht lösen. Zugleich scheint es, als hinge ein Kameragurt neben ihm ins Bild. Möglicherweise handelte es sich also um einen Fotografen und damit einen Kollegen, der von der aufnehmenden Person ganz bewusst, ein wenig neckend vielleicht, in dieser spontanen Pose für die Ansichtskartenewigkeit bewahrt wurde. Auch hier bleiben wir im Mutmaßen, denn die Entstehungsgeschichte dieser Karte ist wie für die meisten Motive nicht auffindbar dokumentiert und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht überliefert. Auch das unterscheidet Ansichtskarten von Briefmarken, deren Entwurfsphasen über weite Strecken, wenn oft auch nur in schwer bis nicht zugänglichen Archiven, sorgsam dokumentiert wurden. Gern wüsste man, wer sich für diese Aufnahme als Ansichtskartenmotiv entschied und warum. Andere Motivinszenierungen des Pavillons sind deutlich strenger komponiert, wenn auch fast immer bewusst belebt, da es offenbar wichtig schien, nicht nur die Ausstellungsobjekte zu zeigen, sondern auch, den großen Zuspruch dieser Ideenschau der Zukunft der Menschheit. Bereits die Tatsache eines post-nationalen Pavillons, also dem der UN, stand für einen Globalisierungsschritt und die Völkerverständigung, beides Aufbruchsthemen dieser Jahre.

VIII.

Das gelbe Hemd verweist wiederum auf einen weiterer Vorteil für eine besondere Facette der Ethnographie. Denn durch die mehr oder weniger bewusst mitdokumentierten Besucher*innen wird auch deren Kleidungsstil durch die Zeit bewahrt. Eine modebasierte Kulturanalyse des Publikums der Expo 58 lässt sich nicht repräsentativ aber doch auf einer Reihe von Stichproben basierend sehr schön durchführen. Auf einem unmittelbaren Wahrnehmungsebene stellt sich für mich beim Anblick des Mannes im gelben Hemd sofort eine Verknüpfung mit dem Schreibenden der Karte her. Es ist wider der Vernunft und der Wahrscheinlichkeit, aber mangels anderer Informationen, stelle ich mir nun Angus als einen Mann etwa dieser Statur und in diesem sportlichen Stil gekleidet vor. Auch diese Assoziativität gehört naheliegend zur Auseinandersetzung mit Ansichtskarten. Die wie bei jeder Bildbetrachtung, lernt man nicht nur etwas über das Bild, das Dargestellte und den zeitlichen und kulturellen Kontext des Objektes. Sondern in einem Schritt auf eine andere Ebene auch über die Betrachtenden und ihre Kontexte und daher auch über sich selbst. 

Wir sind mit der Karte und ihrer Analyse nicht fertig. Eigentlich haben wir noch gar nicht wirklich begonnen, die Schichten und Geschichten, die darin liegen, postkarten-archäologisch freizulegen. Diese Tatsache unterstreicht und verdeutlicht erneut, warum es so schwierig ist, Ansichtskarten in ihrer Komplexität einer Analyse zu unterziehen. Das Material ist unerschöpflich und zugleich hochgradig gestreut und kontingent und zwar auf der kompletten Linie, oft bereits beginnend mit der Motivgestaltung und redaktionellen Bildauswahl über das Angebot bereits für die Verwendenden, deren Verwendungsintentionen, die Übermittelung mit all ihren postalischen Spuren und Tücken, die Überlieferung in der Zeit und so weiter. Die Lektüre dieser Kontexte ist ein weiteres Set an Multimodalitäten. Die “open(-ended)ness of ethnographic practice” ist zweifellos gegeben und reckt sich in zahllose andere Erkenntnisfelder und -praxen.

Wäre das Medium noch im traditionellen Sinne lebendig, könnte man in Folge dieser Einsicht diese Perspektive sogar proaktiv in aktuelle Prozesse der Ansichtskartenproduktion und -verwendung einbauen. Eine Postcrossing-Begleitforschung ist denkbar. Sie wird uns aber leider wenige Antworten auf Fragen zum sozio-medialen Phänomen Ansichtskarte liefern, weil die – in unterschiedliche Etappen und kulturellen Räume differenzierten – Gebrauchspraxen der Vergangenheit grundsätzlich andere waren.

Angesichts der Prominenz des Mediums Ansichtskarte bis zum Advent der Massendigitalität ist erstaunlich, wie wenig über Ansichtskarten geschrieben und reflektiert wurde. Über die Gründe dafür, dass sie in der Wissenschaft bestenfalls als Mauerblümchen abgestempelt vorkamen, wurde bereits spekuliert. In der knappsten Deutung: es ist eine entfesselte Multimodalität die auf einen akademischen Gegenstandselitismus stieß. Wunderbarerweise zeigen Forschungsansätze wie der von Mascha Gugganig und Sophie Schor oder auch Veranstaltungen wie der Workshop zu Potenzialen der Postkarte diese Woche (04./05.11.2021) an der Museumsakademie Johanneum in Graz das sich mittlerweile kleine Forschungstaschen für diese so unglaubliche vielfältigen Gegenstand entwickeln, aus denen sich hoffentlich Kontinuitäten ergeben. Und ja: “more experimental, inventive, collaborative, and reflexive work is needed.” (Gugganig, Schor, 2020)

Baldwin, Brooke (1988): On the Verso: Postcard Messages as a Key to Popular Prejudices. In: The Journal of Popular Culture 22 (3), S. 15–28. DOI: 10.1111/j.0022-3840.1988.2203_15.x.

Boyarsky, Alvin: Chicago à la Carte. In: Robin Middelton (ed.): Architectual Associations – THE IDEA OF A CITY. Cambridge, Mass: Architectual Association, London & MIT Presss, 1996, S. 10-50

Cure, Monica (2018): Picturing the Postcard: A New Media Crisis at the Turn of the Century. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Długosz, Mikołaj: Latem w mieście = Summer in the city. Warszawa : Fundacja Nowej Kultury Bęc Zmiana : TV Working Studio, 2016.

Fortun, Kim (2003): Ethnography In/Of/As Open Systems. In: Reviews in Anthropology 32 (2), S. 171–190. DOI: 10.1080/00988150390197695.

Gabriel, Gottfried (2019): Ästhetik und politische Ikonographie der Briefmarke. In: Dirk Naguschewski, Detlev Schöttker (Hrsg.): Philatelie als Kulturwissenschaft. Weltaneignung im Miniaturformat. Berlin: Kulturverlag Kadmos. S. 83-105

Gugganig, Mascha; Schor, Sophie (2020): Multimodal Ethnography in/of/as Postcards. In: American Anthropologist 122 (3), S. 691–697. DOI: 10.1111/aman.13435.

Kaden, Ben: Was ist Philokartie? In: Ben Kaden: Karten zur Ostmoderne. Leipzig: sphere publishers, 2020, S. 2-5

Meikle, Jeffrey (2015): Postcard America : Curt Teich and the imaging of a nation, 1931-1950. Austin: University of Texas Press

Naguschewski, Dirk; Schöttker, Detlev (Hrsg.) (2019): Philatelie als Kulturwissenschaft. Weltaneignung im Miniaturformat. Berlin: Kulturverlag Kadmos.

Ansichtskarte: THE UNITED NATIONS AT THE BRUSSELS EXHIBITION 1958. UNEXPO BRUSSELS [1958]. 

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